Text: Noah Straubinger, Grafik via Canva
Wenn die Sozialistische Jugend Seminare, Konferenzen oder andere Veranstaltungen abhält, gibt es jedes Mal denselben Abschluss: Die Internationale. Das weltweit bekannte Kampflied der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung soll uns regelmäßig daran erinnern, dass unsere Bewegung nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie nationale Grenzen überwindet. Um die Frage zu klären, wieso wir Internationalist*innen sind, müssen wir uns zunächst aber einer Vorfrage widmen:
Die Nation
„Die Nation“ oder „der Nationalstaat“ ist heute ein kaum wegzudenkendes und vor allem identitätsstiftendes Konstrukt. Treffen wir Menschen aus anderen Teilen der Welt, ist es kaum vorstellbar, nicht gleich nach der Herkunft zu fragen. Und so vielfältig die Antworten darauf ausfallen könnten, so einseitig sind sie in der Praxis: Man kommt nicht aus einem Dorf, einer Stadt oder einer Region. Man kommt aus einem Land, also einer Nation - alles andere ist nebensächlich. Die massive Bedeutung und Identitätsfunktion von Nationalstaaten lässt vermuten, dass sie bereits seit vielen Jahrhunderten ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Tatsächlich entstand das Phänomen der heutigen „Nation“ aber erst vor etwa 200 Jahren. Davor wurden territoriale Grenzen zwischen den Ländereien einzelner Adelsfamilien gezogen. Es gab keine „Nation Österreich“, sondern die Habsburger Dynastie, die neben dem heutigen Ungarn auch Teile Deutschlands, Spaniens, Portugals und der Niederlande umfasste. Kaum jemand identifizierte sich damals über die Adelsfamilie, die gerade über die eigene Heimat herrschte. Es war die Stadt, das Dorf oder der Berufsstand, der Menschen verband und ihnen das Gefühl gab, zusammen zu gehören.
200 Jahre später, nachdem Adelsdynastien durch die heutigen Nationalstaaten ersetzt wurden, ist auch diese Identitätsfrage neu zu beurteilen. Es scheint, als gäbe es wenige Faktoren, die Menschen so sehr miteinander verbinden wie ihre Nation. Versucht man, sich diese Verbindung rational zu erklären, wird es schwierig: Ein Ansatz, der in der Vergangenheit gewählt wurde, war die Abstammung. Es ist nicht nötig, auf den dahinterstehenden Rassismus und das massive Leid einzugehen, das dadurch über die Welt gebracht wurde. Wer heute aber die Bevölkerung eines Nationalstaates evidenzbasiert auf ihre Abstammung untersucht, wird zu keinem aussagekräftigen Ergebnis kommen. Insbesondere in den letzten 200 Jahren kam es zu so einer Bevölkerungsfluktuation, dass kaum noch jemand Vorfahren hat, die über mehrere Generationen am selben Ort lebten. Ebenso wenig lassen die von rechter Seite regelmäßig hervorgehobenen „Werte“ eine taugliche Abgrenzung zu. Blickt man auf diverse Wahlergebnisse, wird man schnell feststellen, dass die „richtigen Werte“ in kaum einer Nation einer einheitlichen Vorstellung unterliegen. Dasselbe gilt für die Faktoren Sprache, Kultur und Religion, die sich alle schon lange nicht mehr an nationalen Grenzen orientieren. Blicken wir etwa nach Belgien oder die Schweiz, sehen wir viele Sprachen und Kulturen unter einer Nationalität vereinigt. Aber auch hier in Österreich ist die religiöse und kulturelle Vielfalt nicht zu übersehen. Zusammenfassend kann die Frage nach der Existenzberechtigung von Nationen nicht beantwortet werden. Es scheint, als wären die heutigen Nationalstaaten teils durch historische Zufälle, teils durch willkürliche Entscheidungen entstanden. Eine durchgängig nachvollziehbare Erklärung ergibt sich nicht.
Die Interessen
Auch wenn es um unsere Interessen geht, dreht sich in diversen Erzählungen alles um die Nation: China bedrohe die Interessen Amerikas, Russland Interessen seien durch die NATO gefährdet und ein Schengen-Beitritt Rumäniens stehe im klaren Widerspruch zu den Interessen Österreichs. Nachdem diverse Erklärungsversuche der Nation und ihrer Existenzberechtigung gescheitert sind, könnte man meinen, es handle sich dabei um eine - mehr oder weniger zufällige - Einteilung der Menschen in verschiedene Interessensblöcke. Auch wenn der Fabrikarbeiter aus Kapfenberg und der Immobilienmogul aus Wien-Döbling wenig gemeinsam haben, so verbinde beide noch immer das gemeinsame nationale Interesse.
Als Internationalist*innen halten wir diese Erzählung für eine gefährliche Zweck-Lüge, die dazu dient, die eigentlichen Interessenskonflikte zu verbergen. Es fehlt an Raum und Zeit, um in diesem Artikel unser grundlegendes marxistisches Weltbild zu erläutern.
Für die hunderten Millionen Euro, die sich beispielsweise Mark Mateschitz als Red Bull Eigentümer gegen Jahresende als Gewinn ausschütten lässt, muss er selbst keinen Finger rühren. Es sind tausende Red Bull Angestellte, die dieses Geld mit harter Arbeit erwirtschaften. Mateschitz selbst ist daran nicht beteiligt, er nimmt keine operative Funktion wahr. Einzig ein geerbtes Blatt Papier, das sein Eigentum am Unternehmen bescheinigt, erlaubt es ihm, sich regelmäßig den von Anderen hart erarbeiteten Gewinn in die eigene Tasche zu stecken. Was dabei klar zum Vorschein kommt, sind die völlig gegensätzlichen Interessen beider Klassen: steigt der Lohn der Angestellten, sinkt der Gewinn von Mateschitz. Lässt sich dieser eine noch höhere Dividende auszahlen, bleibt weniger für den Lohn der Angestellten.
Das eben beschriebene Phänomen beschränkt sich aber keineswegs auf Red Bull, sondern stellt die Realität in jedem größeren Unternehmen dieser Welt dar: egal ob Gazprom in Russland, Volkswagen in Deutschland oder Huawei in China. Und es bringt die Erzählung der unterschiedlichen nationalen Interessen ordentlich ins Wanken. Vergleicht man nämlich die Interessen der Red Bull Angestellten mit jenen der Gazprom Angestellten, lassen sich ähnlich wenig Gegensätze finden wie bei einem Vergleich zwischen Red Bull Eigentümer und Gazprom Eigentümer.
Wer ist international?
Geht man nun einen Schritt weiter, wird man rasch feststellen, dass nationale Grenzen nur eine der beiden Klassen wirklich betreffen. Die weltweiten Markt-Liberalisierungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere in Form von Freihandels- und Wirtschaftsabkommen, haben die Grundlage für eine Internationalisierung diverser (Groß-)Unternehmen geschaffen. Während sich Huawei heute aussuchen kann, ob sie ihre Smartphones in Taiwan, China oder den USA produzieren, sind die jeweiligen Angestellten auf die in ihrer Region angebotenen Arbeitsplätze angewiesen. Die Gliederung unserer Welt in verschiedene Nationalstaaten ist für internationale Unternehmen dadurch aber keinesfalls bedeutungslos. Im Gegenteil: 200 Nationalstaaten bedeuten 200 unterschiedliche arbeitsrechtliche Vorschriften, 200 unterschiedliche Reallöhne und 200 unterschiedliche Umweltstandards. Dieser Umstand schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für die Optimierung eines mehrgliedrigen Produktions- bzw Vertriebsprozesses: Die Rohstoffe kommen aus dem billigen China, produziert wird ohne arbeitsrechtliche Standards in Bangladesh und verkauft wird im wohlhabenden Österreich. Während eine Klasse diese Gegebenheiten also zu ihrem Vorteil nutzt, wird die andere dadurch massiv geschwächt: Wenn etwa Arbeiter*innen aus der Textilindustrie in Bangladesch höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen einfordern, kann von den dort ansässigen Unternehmen jederzeit mit einer Verlagerung ihrer Produktion, etwa nach Indien, gedroht oder reagiert werden. Dieses Beispiel eignet sich gut, um auf die eingangs gestellte Frage “Warum sind wir Internationalist*innen?” einzugehen. Die Drohung funktioniert nämlich nur, solange Arbeiter*innen aus Bangladesh und Indien gegeneinander ausgespielt werden können. Werden nationale Grenzen hingegen überwunden und ein gemeinsamer Kampf für bessere Arbeitsbedingungen geführt, nimmt man den jeweiligen Arbeitgebern ihr effektivstes Druckmittel.