Das Türkische Militär: Bombenhagel statt Katastrophenhilfe

Text: Ozan Kücükkus, Foto: Caglar Oskay via Usplash

 

Das türkische Militär zählt zu den größten und am besten ausgestatteten der Welt. Doch anstatt es für die Erdbebenhilfe einzusetzen, hagelte es bereits einen Tag nach dem Erdbeben Bomben auf kurdische Gebiete. Ein plakatives Beispiel dafür, dass Kurd*innen sogar bei humanitären Katastrophen Zielscheibe Erdogans und somit des gesamten türkischen Staatsapparats sind. 

Nicht einmal 24 Stunden hat es gedauert, bis die ersten kurdischen Erdbebengebiete bombardiert wurden. Nicht nur, dass es nach dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar dieses Jahres in der Türkei und in Syrien, bei dem insgesamt über 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind, zu zahlreichen Versorgungsengpässen kam - mehrere Hilfsorganisationen im Erdbebengebiet berichteten übereinstimmend von schweren Luftangriffen auf kurdische Erdbebengebiete in der Nacht auf den 7. Februar. Präsident Erdogan instrumentalisierte das türkische Heer ganz bewusst, um die kurdische Bevölkerung nach einer derartigen Katastrophe zusätzlich zu terrorisieren, obwohl gerade das Heer eine wichtige Säule bei Bergungsarbeiten hätte sein müssen. Die Türkei hat nämlich eine der größten Armeen weltweit und ist auch eines der wichtigsten NATO-Mitglieder. Das Heer hat über 550.000 stehende Soldaten, doch von diesen wurden anfangs gerade einmal 3.500 für die Hilfe in den betroffenen Erdbebengebieten ausgesendet. Da muss man sich die Frage stellen: Wären auch so viele Menschen gestorben, wenn sie früher reagiert hätten? 

 

Wieso hat die Türkei überhaupt so ein starkes Heer?

Das türkische Heer ist das zweitgrößte der NATO nach den USA und am 13. Platz weltweit. Die Türkei ist eines der wenigen Länder, in welchem noch die Wehrpflicht gilt, das heißt, sie hat viele Soldat*innen, auf welche sie zurückgreifen kann. Die Wehrpflicht in der Türkei dauert zwölf Monate. Abgesehen von den Wehrpflichtigen gibt es noch um die 300.000 Reservist*Innen. Ein wichtiger Grund für dieses große Heer liegt auch in der Kurd*innenfrage. Seit inzwischen fast 50 Jahren führt der türkische Staat Krieg gegen die kurdische Minderheit in den von ihnen seit Jahrtausenden angesiedelten Gebieten.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Osmanische Reich zerschlagen und unter den Siegermächten aufgeteilt. Zu dieser Zeit herrschten viele Unruhen in der Türkei und das verbleibende Osmanische Reich war ein sogenannter „failed State“. So kam es zur Flucht des Sultans, der desertierte. Aus den übrigen Resten des Osmanischen Reiches entstand so die Türkei unter der Führung eines ehemaligen Generals, Mustafa Kemal Atatürk. Der Befreiungskrieg der Türken gegen die Siegermächte konnte nur mithilfe der Kurden gewonnen werden. Im Austausch für die von den Kurden versprochene militärische Hilfe wurde von Atatürk versprochen, den Kurden Autonomie zu gewähren. Dies waren jedoch leere Versprechen, denn Kemal Atatürk hatte nie vor, den Kurden Autonomie zu gewähren, sondern wollte einen homogenen türkischen Nationalstaat gründen. Sobald der Befreiungskrieg gegen die Siegermächte gewonnen war, wurden viele neue Reformen eingeführt, die die kurdische Kultur zurückdrängen sollten, wie beispielsweise das Verbot der kurdischen Sprache in Amtsgebäuden, das Verbot, die Sprache in Schulen zu lehren, und das aktive „Assimilieren“ des kurdischen Volkes. Atatürk sah in den Kurden die größte Gefahr der Türkei.

Kurd*innen werden zu Menschen zweiter Klasse gemacht

Damals wie heute werden Kurd*innen in der Türkei als Menschen zweiter Klasse angesehen und wie man am Beispiel der Bombardierungen nach dem Erdbeben sieht, schreckt die Türkei vor keinen Maßnahmen zurück, auch wenn diese an Brutalität nicht zu überbieten sind. Eine Zeit lang versuchte der türkische Präsident aus taktischen Gründen, Kurd*innen für sich zu gewinnen. So gab es vereinzelte Reformen, die es kurdischen Medien beispielsweise wieder erlaubten, ihre Arbeit aufzunehmen. Außerdem dürfen Kurd*innen ihre Sprache auch wieder in Amtsgebäuden sprechen. Doch sobald die türkische Regierung merkt, dass es Anzeichen eines Wunsches auf einen eigenen Staat gibt, geht sie mit zunehmender Aggression und Gewalt und wenn nötig auch mit dem Militär vor. Kurdische Siedlungsgebiete werden schon fast wie ein fremdes Land im eigenen Land behandelt. Das lässt sich anschaulich am Beispiel der Provinz Tunceli erklären, die ursprünglich Dersim heißt. Der Name wurde geändert, da Dersim ein kurdischer Name ist. Um nach Dersim zu kommen, muss man durch mehrere Grenzkontrollen durch. Das ist in etwa so, als müsste man am Weg von Wien nach Niederösterreich durch eine Grenzkontrolle. Dort wird man befragt, als wäre man ein ausländischer Spion in einem Kriegsgebiet. Es werden Fragen gestellt wie: „Warum fahren Sie dorthin?”, “Haben Sie Familie in dem Gebiet?”, “Wie lange bleiben Sie dort?” oder “Kennen Sie diese und jene Person?“ Man bekommt in jeder Situation vermittelt, dass man eigentlich nicht dazugehört.

Ende in Aussicht? 

Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Minderheit hält bis heute an und hat geschätzt um die 50.000 Todesopfer gefordert. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Gerade jetzt, wo Präsident Erdogan seine Macht für viele weitere Jahre wieder einzementiert hat und in unmittelbarer Zukunft nicht mehr auf die Unterstützung der Kurd*innen bei Wahlen angewiesen ist, schwindet die Hoffnung mehr und mehr, dass  Kurd*innen endlich in Frieden und frei von Verfolgung leben können. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht müde werden, auf die Lage vor Ort hinzuweisen und dass wir aufzeigen, mit welcher Gewalt der türkische Staat und das Militär in dieser Frage vorgehen. Wir müssen unsere Zusammenarbeit mit der kurdischen Community in Wien bzw. Österreich verstärken und auf ihre Anliegen aufmerksam machen.