Text: Raphael Prinz, Grafik via Canva
Wenn die Sozialistische Jugend Seminare, Konferenzen oder andere Veranstaltungen abhält, gibt es jedes Mal denselben Abschluss: Die Internationale. Das weltweit bekannte Kampflied der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung soll uns regelmäßig daran erinnern, dass unsere Bewegung nur dann erfolgreich sein wird, wenn sie nationale Grenzen überwindet. Um die Frage zu klären, wieso wir Internationalist*innen sind, müssen wir uns zunächst aber einer Vorfrage widmen:
Der Krieg, der alles verändert hat
29. Oktober 2014, Idlib, Syrien. Mehrere Hubschrauber der Regierungs-Streitkräfte fliegen über ein Binnenflüchtlingslager, Assads Männer werfen dabei sogenannte Fassbomben, Fässer voller TNT und Metallsplittern, über den Schutzsuchenden ab und töten dabei laut der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte mindestens 10 Zivilist*innen, unzählige weitere werden verletzt. In den Folgejahren wird der Alltag vor allem für Zivilist*Innen immer gefährlicher und der Krieg immer schonungsloser: von politischer Verfolgung, über Folter bis zu gezielten Angriffen gegen die Bevölkerung mit Chlorgas; in Syrien ist kein sicheres Leben mehr möglich. Deshalb sind in Syrien bereits seit 2014 Millionen Menschen auf der Flucht vor einem beispiellos grausamen Bürgerkrieg. Viele verlassen dabei ihr Land nicht, sondern suchen in anderen Städten eine sichere Zuflucht.
Die Türkei als Transitland
Auf dem Weg in die EU gibt es dabei ein Land, das eigentlich alle, die Syrien über den Landweg verlassen wollen, durchqueren müssen: die Türkei. Wie relevant das Land in Sachen weltweiter Migration ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Die Türkei ist mit etwa vier Millionen Geflüchteten - 3,6 Millionen davon Syrer*Innen - die innerhalb ihrer Staatsgrenzen leben, das weltweit größte Aufnahmeland für Migrant*Innen. Viele der Geflüchteten würden eigentlich gerne weiter nach Europa, können das aber nicht, denn die Türkei erlaubt es ihnen nicht. Und das hat auch einen Grund: den EU-Türkei-Deal.
Der EU-Türkei Flüchtlingspakt
Vor allem ab 2014 zwang der Krieg in Syrien, aber auch das Voranschreiten der Taliban in Afghanistan, immer mehr Menschen dazu, ihr Land zu verlassen. In Deutschland wurden aus diesem Grund 2014 etwa 200.000 Asylanträge gestellt, 2015 waren es dann mehr als doppelt so viele. Bereits 2015 beschloss die EU mit der Türkei einen „gemeinsamen Aktionsplan zum Umgang mit Migration“. Auch da galt schon das klare Ziel, Migration über die Türkei nach Europa möglichst stark zu beschränken. Damals schon wurden dem von Erdogan regierten Land drei Milliarden Euro an humanitärer Hilfe zugesichert, um besser mit der Krise umgehen zu können. Am 18. März 2016 beschlossen die EU und die Türkei den sogenannten Flüchtlingspakt. Er besagt unter anderem, dass alle Asylsuchenden, die über die Türkei nach Griechenland gekommen sind, im Falle eines negativen Asylbescheids, zurück in die Türkei abgeschoben werden können. Das kann übrigens nur deshalb geschehen, weil die Türkei von Griechenland als sogenannter „sicherer Drittstaat“ anerkannt wird. Im Gegenzug versicherte die EU, bis Ende 2018 weitere drei Milliarden Euro an die Türkei zu zahlen. In den Jahren 2021 bis 2023 wurden erneut drei Milliarden überwiesen. Das Geld sollte dann in konkrete Projekte für Geflüchtete in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Infrastruktur oder auch Lebensmittelversorgung investiert werden. Die türkische Küstenwache sollte außerdem Flüchtende daran hindern, das Mittelmeer nach Europa zu überqueren. Die EU verpflichtete sich außerdem, für jede*n von Griechenland in die Türkei abgeschobenen Geflüchtete*n aus Syrien, eine*n Geflüchtete aus Syrien aus der Türkei aufzunehmen, allerdings nur, solange eine gewisse Obergrenze nicht erreicht ist. Diese lag anfangs bei 54.000 Menschen, die man maximal aufnehmen wollte. Zur Erinnerung: Bereits damals befanden sich Millionen Geflüchtete in der Türkei.
Geflüchtete in der Türkei: Ein „sicherer“ Drittstaat?
Die Lebensrealität vieler Geflüchteten in der Türkei ist erschreckend: fehlender Zugang zu Schulen für Kinder und keine Möglichkeit zu arbeiten. Die aktuelle wirtschaftliche Lage in der Türkei macht das Ganze nicht besser. Laut einer Umfrage der UNHCR geben 90 Prozent der befragten Geflüchteten an, nicht einmal ihre Grundbedürfnisse decken zu können. Gleichzeitig heizen rechtsextreme Parteien das Klima immer weiter auf und hetzen gegen die Schutzsuchenden. Geflüchtete waren außerdem heftig von den Erdbeben in der Türkei betroffen.
Dass Griechenland die Türkei als sogenannten „sicheren Drittstaat“ anerkennt, ist von Organisationen wie Pro Asyl zurecht heftigst kritisiert worden. Grundsätzlich gelten in der Türkei Geflüchtete als illegal, wenn sie nicht registriert sind, man kann sich jedoch nicht in allen Provinzen der Türkei registrieren lassen. Geflüchtete aus Syrien, die aufgrund von fehlender oder falscher Registrierung in der Türkei in Haft genommen werden, werden beispielsweise gezwungen, sogenannte „Erklärungen zur freiwilligen Ausreise“ zu unterschreiben, die sie verpflichten, das Land zu verlassen. Geflüchtete sollen laut der Anwaltskammer Istanbul so auch nach Idlib abgeschoben worden sein. In jener Stadt, in der 2014 Zivilist*Innen getötet wurden und in der bis heute schwere Kriegsverbrechen an der Bevölkerung begangen werden, teilweise starben Menschen mutmaßlich aufgrund von Abschiebungen nach Syrien. Auch der Zugang für Geflüchtete zu Schulen, zum Arbeitsmarkt oder zu guter Gesundheitsversorgung ist einfach nicht gewährleistet, obwohl die EU ja genau dafür ganze neun Milliarden Euro gezahlt hatte. Kurd*Innen, die aus Syrien fliehen, haben ebenso mit politischer Verfolgung in der Türkei zu rechnen.
Zusammengefasst: Das Schicksal von Geflüchteten als Mittel zur Erpressung
Der türkische Staat verhaftet Geflüchtete, zwingt sie zu illegalen Ausreise-Abmachungen und verfolgt sie teils politisch, „sicher“ ist an einem Aufenthalt in der Türkei für Geflüchtete, sicherlich nichts. Immer wieder benutzt der skrupellose türkische Präsident die rund 4 Millionen Geflüchteten in seinem Land eiskalt als politisches Druckmittel gegenüber der Europäischen Union. So öffnete er beispielsweise 2020 die Grenzen zur Union, im Versuch, mehr Geld und Unterstützung für seine Syrien-Politik zu erpressen. Damit hatte er auch teils Erfolg, letztendlich verkündete die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel, mehr Geld für die Türkei bereitzustellen. Das zeigt, dass die EU auf der anderen Seite nicht daran interessiert ist, an einer menschenwürdigen Lösung dieser Frage zu arbeiten, sondern sich lieber erpressen lässt und bereit ist, ihre eigenen Werte und Grundsätze zu verkaufen, um eine Festung Europa zu errichten.
Die Zukunft des Deals
Der EU-Türkei-Deal verletzt ohne Frage die EU Menschenrechtskonvention und führt dazu, dass Millionen Geflüchteten keine richtige Hilfe geboten werden kann. Währenddessen ist die Lage in den griechischen Flüchtlingslagern mehr als prekär und alles andere als etwas, das eine Institution, die den Friedensnobelpreis erhalten hat, zulassen sollte. Gerade als Sozialist*Innen muss uns bewusst sein, dass der EU-Türkei-Deal eine in jeglicher Hinsicht menschenverachtende Lösung zur Verdrängung einer Situation ist, in der es gilt, den Millionen an Menschen zu helfen, die aufgrund von Krieg, Verfolgung, Folter, Hunger, humanitären Katastrophen und Perspektivlosigkeit ihr Land verlassen mussten. Dass gerade Europa, das sich doch eigentlich immer auf die Fahnen schrieb, für Menschenrechte zu kämpfen, die Augen zumacht und an dieser kruden Abmachung mit der Türkei weiter festhält, zeigt uns, dass es eine Änderung jenes Systems braucht, das all diese Probleme zu verantworten hat!